Skrupelloses Schreiben kennt keine Rechtschreibregeln, braucht keine AdressatInnen und verzichtet auf all die kleinen Rücksichtnahmen und Ausblendungen, die wir im Alltag anwenden, damit der Laden läuft. Im Skrupellosen Schreiben beobachten wir, ohne zu bewerten. Wir schreiben, was wir wahr-nehmen. Im Skrupellosen Schreiben sind wir mit uns allein. Wir können den Vorhang wegziehen und den Raum erspüren, in dem wir wachsen.
Skrupel waren in der Antike kleine Maßeinheiten, die dazu dienten, die großen Mengen genauer zu justieren. Wir können sie uns vorstellen wie die kleinen Gewichte für eine Waage. Damit wird’s genauer, angemessener, passender und gerechter.
Skrupellos ist ein Wort, das wir im heutigen Deutsch in sprachlichen Umgebungen finden mit Worten wie: machtgierig, kaltblütig, habgierig, brutal.
Also wirklich.
Wenn ich in meinen Schreibwerkstätten vorgeschlagen habe, dass SchreiberInnen versuchen könnten, skrupellos zu schreiben, teilte sich der Raum gelegentlich in zwei Gruppen. Die einen waren amüsiert, die anderen empört.
Skrupel sind die kleinen Rücksichten, die wir nehmen, die Justierungen, die wir einfügen, damit niemand beleidigt ist oder zu kurz kommt, die feinen kleinen Korrekturen, die wir im Denken vornehmen. Und manchmal merken wir selber gar nicht, dass wir das tun.
Skrupel schauen uns über die Schulter beim Schreiben und sagen wie Tante Hedwig: ‚So darfst du gar nicht denken!‘ und: ‚Wenn das XY lesen würde!‘.
Skrupel sorgen dafür, dass wir nicht genau genug hinschauen, dass wir die Urteile und Bewertungen immer schon ins Schauen integriert haben. Wir sehen nicht, was ist, wir nehmen nicht wahr. Das kennt jede/r von anderen Menschen, bei anderen sehen wir manchmal deutlich als bei uns selbst, was die nicht sehen.
Wir können das Schreiben nutzen, um wieder in die glasklare, rücksichtslose Beobachterposition zu kommen. Wir können im skrupellosen Schreiben üben, das Wahrnehmen vom Bewerten wieder zu trennen, und einfach schauen, was ist. Dazu dienen die Übungen wie das Hörschreiben, das automatische Schreiben und andere. Wir brauchen das einfache Hinschauen, weil wir dadurch den Raum schaffen, in dem wir einfach sind.
Damit es leichter wird, wieder dahin zu kommen, wo das Schreiben fließend werden kann, wo wir beobachten, ohne zu bewerten, befreien wir das Schreiben von einigen Einschränkungen:
Rechtschreibregeln, Satzbau, Stil sind nicht wichtig. Wir können ganze Sätze machen, halbe Sätze, gar keine Sätze. Komma oder keins, das hält uns nicht auf. Wie schreibt man dieses Wort? – Is mir eggal.
AdressatInnen, auch heimliche, gibt es nicht. Keine Mit-Leserinnen, keine Figuren, die uns über die Schulter schauen und kritisieren, besser wissen, persönlich nehmen, Senf dazugeben. Wir können auch niemandem helfen mit unserem Schreiben, niemandem raten und niemanden eintopfen. Außer vielleicht uns selbst. Skrupelloses Schreiben ist kein Ponyhof.
Leserinnen, Öffentlichkeit, Lob, Kritik gibt es auch nicht. Niemand wird je sehen, was wir geschrieben haben, und wenn wir uns einen Safe anschaffen müssten. Dann gibt’s natürlich auch keine Bewunderung zu ernten, keine Punkte zu machen, niemanden zu beeindrucken.
(Das ist die Stelle, an der sich dann manche Schreibwerkstattsteilnehmer ausklinken, die gehofft hatten, zu lernen, wie sie die Mitwelt mit ihrem Geschriebenen noch besser beeindrucken können.)
Andrerseits kann uns so auch keine kleinliche Kritikerin, die aussieht wie unsere Deutschlehrerin oder unsere beste Freundin, einen Strich durch die Rechnung machen.
Wir schreiben nur für uns selbst. Skrupellos.
Dadurch schaffen wir einen Raum, in dem wir mit uns allein sind, und wir installieren eine Instanz, die in allen Untersuchungen und Theorien zur Resilienz als entscheidend wichtig erachtet wird: die Beobachterin.
Diejenige, die keine Rücksichten nehmen muss und sich an keine Verabredungen erinnern muss und keine Regeln einhalten muss: Die Beobachtende, Wahr-nehmende, die einfach hinschauen kann, hören, spüren, einatmen kann, was ist. Nicht, was sein sollte oder was Hedwig gerne hätte, oder wie Vaters braves kleines Mädchen die Welt sehen sollte.
Dafür braucht es Mut zum Loslassen alter Gewohnheiten, Mut, mit sich allein zu sein und Mut, sich darauf einzulassen, was dann da bemerkbar wird in uns, Hier und Jetzt, wenn wir den Raum dafür öffnen und, temporär, morgens für eine Viertelstunde vielleicht, den Vorhang wegziehen, den wir vor die Dinge hängen, die unser Leben sind. Und ohne Skrupel hingucken, hinspüren, hinhören. Und aufschreiben, was wir wahr-nehmen.
Und dafür gibt’s dann als Belohnung: ein bisschen mehr Raum, mehr Ruhe, mehr Stille, ein ganz klein bisschen mehr persönliche Autonomie vielleicht, mit Glück ein wenig Schönheit, etwas Gelassenheit womöglich, freundliches Bei-Sich-Sein und Zwischenraum, hindurchzuschaun.