Ein Text ist bei mir angelandet, ziemlich düster, ein Krimi vielleicht (jedenfalls gibts da wohl eine Leiche), ein dystopischer Roman (die Welt scheint schon untergegangen zu sein), womöglich eine Liebesgeschichte (kann ja auch unter allen Umständen passieren…), ich weiß es nicht.
Es sind nur drei Seiten, und vielleicht hat jemand Lust, daran weiter zu schreiben. Einsendungen unter der Antwortfunktion oder an: dr.claudia.fuchs(at)freenet.de
Die großen Wasser
Ich fuhr mit dem Mini-Traktor direkt in die braune Brühe, merkte plötzlich,
dass sie an dieser Stelle viel tiefer war als ich gedacht hatte, und
kenterte.
Der Traktor kippte, ich verlor das Gleichgewicht und landete im Wasser. Das
Ganze ging unglaublich schnell. Das Wasser war knietief, und ich wollte
unbedingt verhindern, dass mein Oberkörper damit in Berührung kam. Als ich
mich wendete, um mich aufzurichten, kam mir in der Brühe ein
blasses Gesicht mit offenen Augen entgegen. Ich dachte erst noch: ‚Mach doch
die Augen zu in diesem Dreckswasser!‘ Dann wurde mir klar, sie musste tot
sein. Eine Leiche. Mit mir im Wasser.
Das Gesicht strebte schnell wieder von mir weg. Mariam hatte sie am
Enterhaken und zog sie zu sich auf eine Rutsche, die sie ins Wasser gelegt
hatte. Das war tatsächlich eine Art Surfbrett-Wanne aus gelbem Plastik,
wusste der Geier, wozu das einmal gedient hatte. Jetzt war es eine Rampe für
Wasserleichen. Mariam, kräftig, die Jüngste von uns, zog an, und die tote
Frau glitt auf die schräge Rampe, dann schaukelte sie auf dem Wasser, auf
ihrem gelben Surfbrett. Grüner Pulli aus wiederverwendeten Plastikfäden,
schwarzer Rock, keine Strümpfe, keine Schuhe.
Eher winterlich angezogen, registrierte ich. Jetzt war Sommer, leider.
Das Wasser stank. Die Leiche jetzt auch.
Cora kam näher, sie watete vorsichtig, damit das Wasser nicht an ihren
Beinen hochstieg. Sie hatte ihre Hose hochgekrempelt und trug eine ihrer
eigenen Strickjacken-Blusen-Kreationen, ein Teil für Gut. Ich wusste, warum:
sie hatte kaum noch etwas anzuziehen. Die Sachen gingen schneller weg, als
sie sie stricken und nähen konnte. Und sie musste dringend Geld verdienen
damit. Sie hatte drei Kindermäuler zu stopfen, dafür reichte das staatliche
Standardgeld minires auf keinen Fall. Daher auch die miese und fiese Arbeit in dieser
Wassergrube. Wer sich dafür meldete, bekam einen Zuschlag. Deshalb
war sie hier.
Wenn sie auch nur den geringsten Kredit bekommen könnte, würde sie in ihrem
eigenen Laden mit ihren Creationen aus Altkleider-Material und Plastikstrick gute credits
verdienen können, auf die legale Art, das wusste ich.
Aber das war natürlich unmöglich und würde immer unmöglich bleiben.
Sie hatte gegen die Direktive 218a verstoßen, und das war unumkehrbar.
Nonrev, wie es im Legaldeutsch hieß. Non revisible.
Nicht revidierbar. Sie würde ihr Leben lang auf minires gestellt bleiben:
minimal ressources. Das hieß auch: keine Kreditwürdigkeit, nicht mal für
einen minibusinesscredit, mit dem sich so viele von uns ihre Existenz
sicherten.
So wie Mariam und ich. Wir hatten ein kleines Übersetzungs- und
Dolmetscherbüro aufgemacht, als uns klar wurde, dass immer mehr Menschen in
die SafeZone kamen, die unsere Dienste brauchten. Übersetzungen von
Dokumenten und Aussagen, Begleitung und Dolmetschen bei Behördenkontakten, beim
Ausfüllen von Formularen und Anträgen. Da wir nicht von unseren Klienten,
sondern von den statserv, den statal services, also der Regierung der safe zones, bezahlt
wurden, rentierte sich das ganz gut. Wir waren 3d geratet, das heißt, unsere Dienste
wurden gebraucht und es gab zu wenige Anbieter. Das steigerte die Preise, die uns
zugewiesen wurden. Wir konnten gut leben, solange wir die Direktiven
befolgten. Und weil wir das nicht in jedem Fall getan hatten und dabei
erwischt worden waren, waren wir hier, in diesem Drecksloch mit Leichen.
Specta, special task, das Schön-Wort für Drecksarbeit: Spezielle Aufgaben.
Da wir minibus waren, Inhaberinnen eines mit Krediten geförderten
Kleinunternehmens, waren wir bei Direktivenbrüchen einsetzbar zur Arbeit. Es
gab keine Gefängnisse mehr, seit den statservs klar geworden war, dass man
die brofdi, breach of directives, also die Direktivenbrecher, einsetzen
konnte für jede Art von Arbeit, für die es keine Maschinen gab. Und da die
Überschwemmungen jetzt immer häufiger wurden und noch nicht alle Bewohner in
die safe zones umgesiedelt waren, war die Arbeit meistens nass und ziemlich
dreckig. Leichen allerdings waren ein neues feature.
„Was glaubst du“, fragte ich Mariam, „wie lange ist sie schon hier?“
„Ist nicht angeschwemmt, sondern kommt aus dem Untergeschoß. Von dort hat
der Erdrutsch sie befreit und nach oben getrieben. Ich hab gesehen, wie sie
hochkam. Ich hab hier früher gewohnt, in dieser Straße, und ich glaube, ich
kenne sie. War in der Wäscherei, wenn ich mich richtig erinnere.“
Dass sie sich überhaupt erinnerte, was schon ein brofdi und durfte
eigentlich nicht vorkommen. Es geschah aber wesentlich häufiger als die
statservs wussten: die Drogen, die uns zwangsweise verabreicht wurden,
wirkten nicht so gut wie angenommen. Die meisten von uns hatten noch eine
Idee, wer sie einmal gewesen waren, wo sie gewohnt hatten und wen sie
gekannt hatten. Von den Alpträumen ganz zu schweigen. Die Drogen sollten die
körperliche Abwehr gegen die Wassergifte steigern und die Leistungsfähigkeit
von Körper und Geist erhöhen. Beigemischt waren aber auch Stoffe, die die
Stimmung hoben, und Stoffe, die auf das Gehirn wirkten, so dass man vergaß.
Das war natürlich wegen der massenhaften Traumatisierungen für nötig
gehalten worden. Statserv hatte eine große Humanchemie -Abteilung, die
solche Sachen behandelte.
Wenn dein halbes Land untergeht, weil der Meeresspiegel steigt, und die
Hälfte der Bevölkerung ertrunken und die andere Hälfte von den Wassern
heimatlos gemacht wurde, und außerdem aus anderen Weltgegenden, denen es
noch schlechter geht, die geflüchteten Menschen in den safe zones anlanden, dann ist das
menschliche Elend nicht mehr mit therapeutischen Einzelsitzungen und
Traumatherapien zu bewältigen.
Dann müssen im großen Stil Ruhigsteller, Glücklichmacher und Vergesser
ausgegeben werden, sonst läuft der Laden nicht mehr. Das Implantat mit
Langzeitwirkung war an den Erhalt der staatlichen Unterstützung für alle
geknüpft. Das Existenzminimum erhielt nur, wer sich zusammen mit den credits
auch die Drogen in den Körper einsetzen ließ.
Jede von uns dreien trug ein Implantat, das ihr Leben regierte: